„Postfaktisch“ wählen
19. November 2016 von admin
Die Oxford Dictionaries haben „postfakisch“ (post truth) zum internationalen Wort des Jahres gewählt. Wer denkt da nicht an Helmut Markworts Focus-Werbespruch der 1990er Jahre: „Fakten, Fakten, Fakten“. Nicht Sprüche, sondern Fakten sollen angeblich auch sonst nur in den Medien zählen. Das tun sie aber kaum. Talkshows füllten die Medien und das mit Absicht, wie Noam Chomsky in seinem Buch von 2002 Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media (Konsens herstellen: Die politische Ökonomie der Massenmedien) schrieb. In dem Buch kommt der früher viel gelobte Sprachwissenschaftler zu dem Schluss: „Die Medien dienen den mächtigen gesellschaftlichen Interessen und betreiben Propaganda im Auftrag derer, die sie kontrollieren und finanzieren. Die Vertreter dieser Interessen haben wichtige Agendas und Prinzipien, die sie vorantreiben wollen, und sie sind gut positioniert, um die Medienpolitik zu gestalten und einzuschränken.“ Als dies selbst der Mann auf der Straße, ohne das Buch gelesen zu haben, realisierte, machte das „Unwort“ „Lügenpresse“ die Runde und empörte „die Vertreter dieser „Interessen“ und selbstverständlich deren Medienvertreter. Da klingt doch „postfaktisch“ viel harmloser. Damit könnte sich sogar das dienst- und genuss-eifrige Chiqueria-Gebinde um diese Interessen abfinden, zumal heute ohnehin kaum noch jemand “die Fakten” überprüfen kann und dies meist nicht einmal will. Glauben ist bequemer und meist auch karrieredienlicher – vorerst jedenfalls. Die Trump-Wahl hat da bei manchen Leuten Zweifel aufkommen lassen. Daher die erste Aufregung nach dem „Schock“.
Eigentlich wollte ich nichts mehr zum Trump-Schock schreiben, bis der Schocker „Butter bei die Fisch“ gibt, wie der Nordrheinländer sagen würde. Doch da kam mir der – wenn man von der AfD-Hetze absieht – kaum geführte Bundeswahlkampf in der Bundrepublik dazwischen. „Alternativlos-Weiterso“ Merkel stelle sich wieder zur Wahl, ließ Merkel von Leuten verbreiten, von denen sie sich jederzeit leicht „distanzieren“ kann. Das waren sogenannte Testballons. Offensichtlich fiel der Test positiv aus, weil große Aufregung oder gar Proteste weitgehend ausblieben. Es bleibt nur ein Problem: wie lässt sich bei dem derzeitigen flüchtlingsbedingten Stimmungstief eine verlässliche Mehrheit zimmern. Die benötigte Anzahl der Stimmen für die CDU ist vorerst trotz des zum Stimmenfang Ausscherens der CSU und auch bei einer möglichen Hinwendung der CDU zu den Grünen ungewiss. Auf unsichere Sachen lässt sich eine Frau „stets bei den stärkeren Bataillonen“ Merkel nicht ein. Aber auf diese Bataillone (und die sie stützenden „Interessen“) ist seit der Trumpwahl nicht mehr – wie bisher gewohnt – uneingeschränkt Verlass. Was tun?, spricht ZeusIn.
Da kommt die Wahl des Bundespräsidenten gerade recht: „Wie Du mir, so ich Dir.“ Das kann man auch positiv verstehen: Ich unterstütze Deinen und Du meinen Kandidaten. Und schon war der Durch-und-Durch-Bürokrat der anderen Seite, der jeder Weisung von oben brav folgt, für Merkel ein „zuverlässiger“ Kandidat jedenfalls dann, wenn Gabriel bei der voraussichtlich knappen Bundestagswahl Zugeständnisse fest zugesagt hat. Damit scheint das „Weiter so“ und „vorwärts von Fall zu Fall“ gesichert und Aufregungen nach dem Wahltag im preußisch streng ausgerichteten deutschen Medienwald vorsorglich vermieden worden zu sein.
Was aber war der Grund für die Aufregung made in USA? Gibt es ähnliche Gründe auch hier? Und weshalb wurden sie offensichtlich übersehen? Nun, zur Inflationsbereinigung hatten US-Regierungsbehörden zum Beispiel den Wert eines Pick-ups, der 1996 rund 15.000 $ und heute über 26.000 $ kostet gleich setzen. Schließlich sei der heutige Pick-up nicht zuletzt wegen des vielen elektronischen Schnickschnacks der Preissteigerung entsprechend „wertvoller“. Dem einfachen Mann, der den Pick-up benötigt und kaufen muss, nützt der Schnickschnack wenig. Aber er muss für das Gerät mit dem gleichen Nutzen rund 70 % mehr als 1996 zahlen. Solche sog. „Adjustierungen“ – auch bei anderen Konsumgütern wie Autos, TV usw. helfen den Behörden die Inflationsrate postfaktisch in einem wählergenehmen Rahmen zu halten.
Das gilt natürlich auch für das Wohnen. Nach den „postfaktischen“ Angaben des Bureau of Labor Statistics (BLS) sind in den USA die Immobilienpreise seit 1996 nur um rund 50% gestiegen. Ein kurzer Blick in damalige und heutige Preislisten zeigt, dass ein für den Durchschnittsbürger typischerweise vor 20 Jahren erschwingliches Haus etwa 137.000 $ kostete. Heute muss er dafür rund 305.500 $ hinlegen. Nach Adam Riese sind das aber nicht nur postfaktische 50 % sondern gut und gern 120% Kostensteigerung. Wahrscheinlich wird die erhebliche Diskrepanz inflationsbedingt auch als „Adjustierungen“ durch über alle Zweifel erhabene Regierungsstellen gerechtfertigt. Ob die heutigen Häuser wirklich besser als diejenigen von 1996 sind, lässt sich bezweifeln. Allenfalls sind sie vielleicht „umweltfreundlicher“ ausgestattet, was schnelleren Verfall der isolierten und durchfeuchteten Hauswände und aufwendigere Reparaturarbeiten an der Installation garantiert.
Im Endeffekt muss der typische US-Durchschnittsbürger immer noch in einem für ihn typischen Haus leben und mit dem typischen Wagen zur Arbeit fahren. Er kann nicht sagen: „Ich nehme nur das Haus aus dem Jahr 1996 und verzichte auf alles hinzugesetzte, das ich mir nicht leisten kann. Aber er hat ja inzwischen auch mehr verdient. Hat er das? Der Statistik des Census Bureau zufolge lag im Jahr 1996 das durchschnittliche nominale (nicht inflationsbereinigte) persönliche Gehalt von Menschen mit Hochschulbefähigung aber ohne Hochschuldabschluss in den USA bei etwa 29.000 $. Heute soll es bei etwa 40.000 $ liegen. Das ist ein Anstieg von etwa 38 % aber nicht von 70 oder 120 %. Hier wirkt das postfaktische Adjustment offensichtlich in umgekehrter Richtung. Demnach würden die Leute auch weniger schaffen und trotzdem… US-Wähler, die nicht in die Zeitung oder ins TV, sondern in ihren Geldbeutel schauen, stellten allmählich fest, dass die Preise z.B. beim tagtäglichen Bedarf (die Kosten für Unterricht und medizinische Versorgung liegen sogar laut der grob verharmlosenden Regierungszahlen heute um 200% bzw. 100% höher als 1996) rund dreimal so schnell wie die Einkommen gestiegen sind. Solche Erkenntnisse erzeugen trotz postfaktischer Beteuerungen, dass dem faktisch (dank des Adjustments) nicht so sei, für ungute Gefühle. Diese richten sich vor allem gegen ein „Weiter so“ und haben sich in den US-Wahlen trotz enormer Anstrengungen der Medien, das zu verhindern, Ausdruck verschafft. Die Aufregung gilt der Tatsache, dass die einfachen Leute dabei sind, aus dem für sie vorbereiteten Gleis zu springen. Bei uns ist das natürlich alles nicht so schlimm, denn schließ fand der viel gerühmte wirtschaftliche Aufschwung nicht nur in den USA, sondern auch – etwas weniger gerühmt – bei uns statt – allerdings nur auf den Finanzmärkten, auf die es den postfaktischen „Interessen“ und ihren Medien faktisch nur noch anzukommen scheint.
Deshalb stiegen die Gewinne der Finanzindustrie von rund 10% der gesamten Unternehmensgewinne im Jahr 1970 auf fast 40% dieser Gewinne im Jahr 2007 (jüngere Zahlen liegen leider nicht vor). Das Problem der Finanzkrise von 2008 hieß einfach ausgedrückt: „Zu viel Schulden“. Die Zentralbanken reagierten auf diese Krise, indem sie die Sparer beraubten und die Schuldenmacherei erleichterten und verbilligten. Und siehe da: Die Schulden der US-Unternehmen sind seit Krisenbeginn um 3 Billionen $ gestiegen, die der US-Regierung um 7,6 Billionen $, und die privaten US-Haushalte schultern seither 1,2 Billionen $ mehr an Schulden. In diesen Zahlen ist die Zunahme der Hypothekenschulden nicht einmal enthalten. Die Schulden der US-Konsumenten stiegen in den letzten zwölf Monaten doppelt so schnell an wie ihre Konsumausgaben und wesentlich schneller als ihre Einkommen. Besonders auffällig ist diese Entwicklung in den Staaten, die mehrheitlich für Trump gestimmt haben. Natürlich muss so etwas „die Wirtschaft“ verlangsamen. 95 Prozent der Bevölkerung können nicht mehr einkaufen und die fünf Prozent, die es aufgrund ihres Einkommens könnten, brauchen nicht mehr. Wie kann man unter solchen Bedingungen noch Gewinne erzielen? Nicht durch mehr und bessere reale Produkte, sondern nur, indem man die Leute auf die Finanzmärkte in immer riskantere Finanz-“Produkte“ lockt, die man dann auf ein Zeichen hin platzen lässt. Ein solches Zeichen könnte demnächst die nichtmehr Deutsche Bank (mit dem Emir von Katar als Hauptaktionär) wie damals Lehman Brothers geben, als die Bank in London noch schnell 50 Milliarden $ abgriff und untertauchen ließ, die inzwischen irgendwo – Gerüchte meinen in Israel – wieder aufgetaucht sein mögen.
Kürzlich hat das Wall Street Journal eine Analyse veröffentlicht, wonach das Verhältnis zwischen Dividendenzahlungen und dem Aktienwert der Firmen im S&P 500 Index den höchsten Wert seit 1993 erklommen hat. Gleichzeitig ist das Verhältnis zwischen Unternehmensgewinn pro Aktie und ihrem Wert auf dem Finanzmarkt auf den niedrigsten Wert seit 2002 gesunken. Was bedeutet das? Den Investoren ist die Dividende in der Hand wichtiger als die Fundamentaldaten und realisierten Unternehmensgewinne auf dem Dach. Die CEO der S&P 500 Firmen berücksichtigen das (um der Boni willen) und schütten inzwischen 38 % des Gewinns als Dividenden aus. Das ist der höchste Wert, jedenfalls seit dem Jahr 2009. Es soll in dem Index sogar 44 Unternehmen geben, die mehr Geld als Dividende ausschütten als sie an Gewinn realisiert haben – nach dem Motto: Nach uns die Sintflut. Wird der neue US-Präsident eine echte Veränderung ohne großen Knall bewerkstelligen können?
Postfaktisch geht es bei uns natürlich auch mit dem Klima zu. Das Grönland-Eis nimmt inzwischen um rund 3,5 Milliarden Tonnen pro Tag zu. Dazu kommt es trotz der postfaktischen Klimaerwärmung durch CO2, weil es über Land rekordverdächtig rasch abkühlt, über 50% schneller als gewohnt (Real Climate Science, 14 November 2016). Auch die jüngsten Daten des NOAA Storm Prediction Centers geben an, dass die Anzahl der Tornados derzeit die geringste ist, seitdem ab 1954 darüber buchgeführt wird (Watts Up With That, 16 November 2016). Das geschieht, obwohl man uns wieder und wieder die Mär vom wärmsten Jahr 2016 seit eh und je erzählt.
Vielleicht ist auch folgende Meldung, die mit Bild durch gewisse arabische Medien ging, in diesem Zusammenhang interessant: Seit der Niederlage von Hillary Clinton in den USA wurden plötzlich mehrere Offiziere des IS und der „gemäßigten Rebellen“ nicht nur in Aleppo, sondern auch in Idlib und Rakka, und weiter weg im Irak ermordet. Sind das nun Abrechnungen zwischen rivalisierenden Banden, oder versucht die Obama-Regierung Spuren und Zeugen aus der Welt zu schaffen, bevor Präsident Trump sein Amt antritt.
Auf letzteres deutet ein Anschlag hin, der in der irakischen Stadt Al-Hamdaniya westlich von Mossul hängen geblieben war, als Verteidigungseinheiten der Provinz (Nineveh Plain Protection Units, NPU) sie von den Terroristen befreit hatten. Auf der Anschlag-Tafel hat die Führung des IS ihren Milizionären strengstens verboten (mit ihren neu gelieferten FIM 92 Stinger Raketen, ergänzt) auf Kampfflugzeuge der westlichen Koalition zu schießen „selbst wenn sie auf dem Dach Deines Hauses gelandet sind.“ Das Dokument war von dem örtlichen IS-Chef Abu Muawia unterzeichnet worden. Seit 1978 rekrutieren die USA und Saudi Arabien Dschihadisten, erst gegen die Sowjetunion und dann gegen Russland. Sie verstoßen damit gegen die UN-Charta und die Resolution 2625. Während der Kriege von Afghanistan, Jugoslawien, Algerien, Tschetschenien, Irak, Libyen und Syrien haben diese Dschihadisten mehr als eine Million Menschen umgebracht. Ob der neue US-Präsident wenigstens das abstellen kann?