Harry Zingel, Spatzseite, Neue Solidarität, Universum, Tod
22. August 2009 von admin
In eigener Sache
„Alles Gute kommt von oben – aber wann?“, lautete der Titel der letzten Spatzseite, die Harry Zingel ins Netz stellen konnte. Danach war er tot. Da er der Inhaber der Domain war und ich keine Zugangsdaten habe, musste die Spatzseite umziehen, was ja nun auch geschehen ist.
Harry Zingel starb mit 45 Jahren viel zu jung, daran ändert auch seine Diabetes und seine – früher jedenfalls – zu intensive Verwendung chemischer Mittel, erst um einschlafen und dann um wieder wach werden zu können, nichts. In manchen Kreisen, die gerne überreizt reagieren, entspannen sich allerlei Mutmaßungen. Sicherlich, er starb zu früh, auch im Hinblick auf das, was wir oder andere noch von ihm erwartet haben. Aber er starb nicht durch direkte Fremdeinwirkung, wie manche vermuten wollen. Dass indirekte Fremdeinwirkung mitgewirkt hat, ist naheliegend – wir alle unterliegen unterschiedlichsten Fremdeinwirkungen vielfältiger Form. Doch soll von Spekulationen auf Bitten seiner Frau abgesehen werden.
Todesfälle wie dieser berühren uns. Wir sind, je nachdem wie nahe wir Harry (oder Harald, wie er ursprünglich hieß) standen, erschüttert. Er hinterlässt eine Lücke und erinnert uns daran, dass auch wir demnächst abtreten werden. Ob die Lücke oder die Ermahnung mehr erschüttert, sei dahingestellt. Ich will auch zu/über Harry nichts weiter sagen. Jeder kennt ihn auf seine Weise und möge ihn so in Erinnerung behalten. Nur ein paar Zeilen, die ich kürzlich gelesen habe, möchte ich zum Nachdenken über den Todesfall geben, weil sie die „Lücke“ mit der „Ermahnung“ verbinden. Sie stammen von Gustav Fechner, dem Begründer der modernen Experimentalpsychologie (einer von mir nicht gerade geschätzten Disziplin):
„Wenn einer von uns stirbt, ist es, als ob sich ein Auge der Welt schließen würde, da alle Beiträge zur Wahrnehmung aus dieser speziellen Quelle aufhören. Aber die Erinnerung und die sinnvolle Beziehung, die sich um die Wahrnehmungen dieser Person herum gesponnen haben, verbleiben deutlich wie eh und je im größeren Erdenleben. Sie bilden neue Beziehungen, sie wachsen und entwickeln sich in alle Zukunft in der gleichen Weise, in der unsere eigenen, jeweils verschiedenen Gedankenobjekte neue Beziehungen bilden und sich innerhalb unseres gesamten endlichen Lebens entfalten, nachdem sie einmal im Gedächtnis gespeichert worden sind.“ (Zitiert nach Ervin Laszlo, Kosmische Kreativität).
Viele leugnen – wahrscheinlich zu Recht, – dass wir einen vom Gehirn abtrennbaren „absoluten“ Geist besitzen, aber sicherlich haben wir auch kein vom sich entwickelnden Universum abgetrenntes Gehirn. Wie dieser Zusammenhang zu verstehen ist und wie die aus einem solchen Verständnis gewonnene Erkenntnis in privates, praktisches und gesellschaftlich/politisches Handeln umzusetzen ist, bleibt die Aufgabe, die sich jedem von uns mehr oder minder klar stellt und in die wir Harrys Wahrnehmungen folgewirksam eingestellt wissen können.
Die wöchentliche Spatzseite will die mit Harry zusammen geleistete Arbeit in diesem Sinne weiterführen. Sie hätte am 14.11. 2009 ihr 10-jähriges Jubiläum und die 500ste Ausgabe zu feiern gehabt. Wie? Das hatten wir uns noch nicht überlegt. Wie ist der Spatz zustande gekommen? Es gibt eine längere Vorgeschichte.
Harry war Leser der Wochenzeitung Neue Solidarität, die damals in meinem Verlag erschien. Ihn begeisterten vor allem meine Beiträge zur Kritik des politischen Pseudo-Umweltschutzes und er schlug vor, sie ins Internet zu stellen. Wann das war, erinnere ich mich nicht mehr, aber es war viele Jahre, bevor Verlag und Zeitung einen eigenen Internetauftritt in Gang gebracht hatten. Das Internet war damals noch kaum ins öffentliche Bewusstsein getreten und wurde von nur wenigen Menschen genutzt. Ich nahm die gebotene Möglichkeit gerne an und schickte Harry Texte zur Veröffentlichung zu. Er stellte sie ins Internet und bekam deshalb schon bald Schwierigkeiten mit seinem damaligen „Provider“, weil sich andere Internetnutzer über die angeblichen „Nazi-Inhalte“ beschwert hatten. Abgesehen von der Empörung über die unerwartete (vorrübergehende) Sperrung, wunderte ich mich über die neue Schublade, in der ich mich als Verfasser der Texte nun vorfand. Meine Äußerungen waren bisher immer nur als „kommunistisch“ verleumdet worden. So lernte ich – wir beide (Harry war ursprünglich stramm antikommunistisch eingestellt) -, dass es den Gegnern nie um inhaltliche Auseinandersetzungen mit der Kritik gegangen war, sondern immer nur um diffamierende Ablehnung. Das hat sich in den vielen Jahren nicht geändert. Ich kenne, von Fehlerkorrekturen, die nicht den Sinn und Inhalt betrafen, abgesehen, keine inhaltliche Auseinandersetzung mit meinen Texten. Dazu griffen die Verleumder zu den von Seiten der Herrschenden jeweils am stärksten sanktionierten Etiketten. Nach dem Überlaufen der Neo-Linken (angeblich ein Ableger der technologisch progressiven Alt-Linken, aber wohl eher ein Geheimdienst-Konstrukt) zu den technisch reaktionären Grünen, zur Verhinderungsbewegung Anfang der siebziger Jahre, wechselte allmählich auch die Beschimpfung vom Etikett „kommunistisch“ zur ebenso unbegründeten und dümmlichen Bezeichnung „nazi“, „rechtsradikal“, neonazi“ etc. So wussten Gefolgschaft und politische Polizei Bescheid und nur darauf kam es den ideologischen Gralshütern offensichtlich an.
Mit der Zeit distanzierte ich mich immer mehr von der „Linie“ der Neuen Solidarität. Das lag weniger an den vorgeschlagenen Inhalten der Programme, als viel mehr an zunehmenden Zweifeln an der „eigentlichen“ Politik und Absicht der dort tonangebenden Person(en) aufgrund ihres Verhaltens, das den Misserfolg der an sich vernünftigen Programmatik, wenn schon nicht absichtlich, so doch praktisch zur Folge hatte. Der Misserfolg ließ sich zunächst allerdings auch anders erklären; zum Beispiel durch die Scheu der in Deutschland „gebrannten Kinder“, sich zu exponieren, das heißt einer von Oben nicht als politisch korrekt anerkannten Partei beizutreten oder wenigstens ihr Organ zu abonnieren und sich dadurch zu „outen“. Das Vertrauen in die Meinungsfreiheit der freiesten aller deutschen Republiken war offensichtlich nicht sonderlich verbreitet und wurde durch das Verhalten seiner Behörden und die Meinung vorgebenden und überwachenden Institutionen kaum gefördert.
Aus den zuletzt genannten Überlegungen entstand die Idee der Spatzseite. Sie wollte möglichst in ironisch lustiger Form (die ich allerdings nicht einzuhalten vermochte) die wichtigsten politischen Ereignisse der Woche zusammen mit grundlegenderen Überlegungen so aufbereiten, dass dadurch in den Denkapparaten des Lesers „kognitive Dissonanzen“ zu den „Selbstverständlichkeiten“ entstehen sollten, welche die „anerkannten“ Medien und Autoritäten über ihm ausgossen. Aus dieser Zielsetzung ergab sich die Vorstellung, die zum Namen „Spatz im Gebälk“ führte, die Vorstellung eines kleinen frechen Vogels, der sich „aus Versehen“ in die Dachkammer eines Lesers verirrt und dort durch sein Zwitschern und Flattern etwas für Unruhe und Aufregung sorgt. Der Text sollte knapp sein und sich für ein Flugblatt eignen, das Leser, wenn sie es für wert hielten, ausdrucken und weiterverteilen konnten. Wenn er im Internet erschien, so unsere damalige Annahme, würden ihn sich die Leser ansehen können, ohne damit identifiziert werden zu können. Die Seite sollte von uns aus nicht verschickt werden, sondern sich aus sich selbst heraus durch ihre Leser verbreiten. Das eigene Anklicken der Seite sollte das Interesse an ihr dokumentieren.
Harry hatte mit der Entwicklung der Ideen zunächst nichts zu tun, war aber sofort bereit an der Umsetzung mitzuarbeiten. Er richtete die entsprechende Internetseite ein und pflegte unentgeltlich jeden Sonntag den Text ein, den ich ihm jede Woche zukommen ließ. Von ihm stammte der knappe Überblickstext am rechten Rand der PDF-Ausgabe. So ging das nun fast zehn Jahre lang, Woche für Woche, mit ganz seltenen Unterbrechungen, wenn einer von uns einmal unterwegs war, was selten genug vor kam.
Über die Texte haben wir inhaltlich kaum diskutiert. Das lag ursprünglich auch an dem unterschiedlichen Kommunikationsverhalten. Harry bevorzugte das Internet, ich zunächst noch das Telefon. Harry das Mobiltelefon und ich aus Kostengründen das Netztelefon. Der eigentliche Grund war aber die geringe Zeit, die jedem von uns neben der Sorge für den Lebensunterhalt für dergleichen blieb. So seltsam es klingen mag: Ich habe Harry in all den Jahren nur ein einziges Mal gesehen, als ich ihn am Rand einer Reise nach Berlin in Erfurt besuchte. Nur manchmal hat Harry die offensichtlichsten orthographischen Fehler des Legasthenikers korrigiert, aus Sicht so mancher Ordnungsliebender viel zu selten.
Wohlmeinende hatten uns vorgeschlagen, wenn wir schon kein Geld für den Zugriff verlangen, wenigstens Werbe-Links auf der Seite einzurichten, um – als die Besuche auf der Seite deutlich zunahmen – wenigstens etwas an der allwöchentlichen Mühe zu verdienen. Harry hatte das immer abgelehnt, weil das – wie er meinte – den Wert der Seite mindern würde. Sie würde dadurch, wie alles andere in der Öffentlichkeit, kommerzialisiert. Die Leser würden dann vor allem auf die Interessen „hinter“ dem Text und nicht mehr auf diesen achten (was sie wohl leider auch ohne die Werbung taten). Wahrscheinlich störte ihn mehr die heute alles beherrschende Beutelschneiderei. Dieses Missbehagen mag wohl auch gewisse indirekte „Fremdeinwirkungen“ ausgelöst haben, weil Harry durch zu geringe Preise das Geschäft mit BWL-Informationen störte. Doch das sind nur Spekulationen.
Hat die Seite etwas gebracht? Das können nur die Leser beurteilen. Die Zahl der Zugriffe ist in den zehn Jahren laut Harrys Zählwerk ständig gestiegen und lag zum Schluss schwankend bei rund 15.000 Zugriffen pro Woche – eine erstaunlich große Zahl, die sich aber keineswegs in irgendwelchen Reaktionen auf die Texte spiegelte. Diese waren eher rar. Das läge daran, sagte man mir, dass man nicht wüsste, ob die Spatzseite nicht ein von Geheimdiensten ausgelegter Köder sei. Aber wer ließe sich damit schon fangen?
Inzwischen ist eine so große Anzahl ähnlicher Blogs und Foren entstanden, die am Sinn, die Spatzseite weiterzuführen, zweifeln ließ. Denn was geschieht schon mit all den Informationen und angestoßenen Überlegungen? Lösen sie Handlungen aus? Die Bürger wählen, obwohl viele der einsamen, bekrittelten und oft auch lächerlich gemachten Ankündigungen später durch die Ereignisse bestätigt wurden, doch immer noch die gleichen Parteien. „Was bleibt einem denn anderes übrig“, klagt die Bequemlichkeit. Aber sollte man nicht wenigstens zu seiner Überzeugung stehen und, wenn schon keine Alternative ins Blickfeld rückt, wenigstens „kein Übel“ auch kein „Kleineres“ wählen und gar noch glauben, wenn man dies nicht täte, würde man seine Stimme „verschenken“?
Vielleicht gibt einem die eingangs zitierte Überlegung Fechners so etwas wie Trost und Zuversicht. Das Universum ist kein leerer, mit mechanischen Abläufen angefüllter Raum, wie wir noch in Naturkunde auf der Schule erklärt bekamen. Es ist ein in der irreversibel fortschreitenden Zeit sich entwickelndes, auf seine Entwicklungsschritte rückgekoppeltes und in sich wechselwirkendes Universum. Die Erkenntnis führt zu der sicherlich zunächst etwas abgehobenen Einsicht, dass unsere erkennenden Wahrnehmungen und unsere Handlungen Einfluss nehmend in die Entwicklungsdynamik eingehen. Die Ungeduld wünscht sich eine raschere und kräftigere Einflussnahme. Dies auch voranzutreiben bleibt unsere Aufgabe. Ihr weiß sich die Spatzseite im näher liegenden, gesellschaftlichen politischen Bereich verpflichtet.
Böttiger