Aus Erfahrung unklug?
11. Mai 2013 von admin
Das Internationale Arbeitsamt in Genf (ILO) will herausgefunden haben, dass weltweit über 73,4 Mio. Jugendliche arbeitslos sind, 3,5 Mio. mehr als vor 2007. Zwischen 2008 und 2012 stieg ihre Zahl in den Industrieländern um mehr als zwei Millionen, eine Zunahme um fast 25 %. Weltweit liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 12,6 % in den Industrieländern bei 18 %. Sind wir so reich oder so einfallslos, dass es nichts mehr zu tun gibt? Zu tun gäbe es genug, aber man „verdient“ dabei nichts, „Geld“ ist das Problem, aber nicht das einzige.
Was haben die Billionen an Dollar bewirkt, mit denen die Hochfinanz die Staaten neu verschuldet hat, um damit gegen die Wirtschaftsflaute vorzugehen? Die Aktienkurse steigen in nie gehabte Höhen. In der realen Wirtschaft tut sich nichts. Das Kreditgeld gegen das Nicht-Mehr-Funktionieren des freimarktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems ist sinnlos verpulvert oder kriminell „privatisiert“ worden. Etwas „von Wert“ wurde damit nicht geschaffen. Die Situation ist noch übler, wenn man bedenkt, dass immer mehr Arbeitskräfte mit Vollzeitjobs weniger als 800 € brutto im Monat verdienen und deshalb auf Hartz IV angewiesen sind. In den vergangenen vier Jahren ist ihre Zahl ständig gestiegen und lag nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit 2012 bei durchschnittlich 1,3 Mio. Schicksalen (ohne deren Angehörige). Doch die Menschen wollen nicht begreifen, dass die Finanz- und Marktsysteme, die der westlichen Wirtschaft zugrunde liegen, zur Versorgung und Entwicklung der Gesellschaft nicht taugen, dass sie asozial sind?
„Aber sie haben uns reich gemacht“ – wen, auf wessen Kosten? Theoretiker der österreichischen und der Chicagoer Schule der Ökonomie und ihre „freiheitlichen“ Nachbeter reden sich heraus: Es liege nicht am Marktsystem mit seinen drei Grundsätzen (wettbewerbsbestimmter Arbeitsmarkt, automatischer Goldstandard und globaler Freihandel), sondern daran, dass es bisher überhaupt noch nicht realisiert worden sei. Es würde in seiner „segensreichen“ Funktion ständig durch Eingriffe von Seiten geldgieriger Wirtschaftsverbände, den Gewerkschaften aber vor allem vom Staat pervertiert. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die meisten dieser Eingriffe hilfslose und meist vergebliche Versuche waren, die Dysfunktionalität des Systems, die Entartungen, die es verursacht, in ihren Auswirkungen abzumildern. „Mit derartigen Maßnahmen reagierte man auf die Erfordernisse einer Industriegesellschaft, die mit den Methoden des Marktes nicht befriedigt werden konnten“, schrieb Karl Polanyi bereits 1944, und belegte das in seiner wirtschaftsgeschichtlichen Analyse reichlich mit Fakten. Die gleiche Aufgabe hatte das an Stelle des Goldstandards eingeführte Kreditgeld unter (nur der halben) Kontrolle der Zentral- oder Notenbanken. Es sollte als Puffer zwischen Binnen- und Außenmarkt gewährleisten, dass wenigstens ein Teil der Bevölkerung nicht von den Schwankungen beider Märkte zerrieben wird. Dagegen deklinieren kleinbürgerliche Liberale bis heute immer noch geistlos ihre doppeldeutig auslegbare ‚Angebot : Nachfrage Algebra‘ herunter.
Im wesentlichen sah Polanyi prinzipiell drei Gründe, weshalb das Marktsystem eine Illusion ist und nicht die Organisation der Gesellschaft übernehmen kann, ohne sie notwendiger Weise zu Grunde zu richten. Er nennt die Anwendung des Marktmechanismus auf die Arbeit, den Boden und das Geld. Denn die Anwendung setzte voraus, dass Arbeit d.h. menschliches Leben, der Boden, d.h. die Lebensvoraussetzung der Menschen und das Geld, d.h. Zahlungsmittel oder Kaufkraft handelsübliche Waren wären. Sie sind aber keine Waren, weil sie nicht für den Verkauf auf dem Markt produziert werden beziehungsweise auch nicht dafür produziert werden können. Die Marktgesellschaft gründet sich als Organisationsprinzip der westlichen Gesellschaft auf diese Fiktionen, die auch nicht -wie oft behauptet – „freiheitlich demokratisch“ sondern mit brutaler Gewalt, klassenkämpferisch gegen die Mehrheit der Bevölkerungen der westlichen Gesellschaft durchgesetzt worden waren. Im Zuge der Durchsetzung dieser Fiktion „war die menschliche Gesellschaft zu einem Beiwerk des Wirtschaftssystems herabgesunken“ und befindet sich seither in Auflösung.
Da man nicht mehr prinzipiell denkt und sich nur auf Erfahrungen stützen will, muss man versuchen, durch Erfahrung klug zu werden, bisher mit wenig Erfolg. Derzeit veröffentlichen die Medien fast täglich Berichte, in den Vereinigten Staaten habe ein breiter wirtschaftlicher Aufschwung eingesetzt und das Land stehe vor einer allmählichen Reindustrialisierung. Diese Propaganda zur psychologischen Stützung der Dollarhegemonie stützt sich vor allem auf den ‚wettbewerbsfähigen’ Wechselkurs des US-Dollars und die Schiefergasrevolution mit Hilfe des Fracking, die in den USA eine neue, kostengünstigere Energiequelle erschließt. Wären nicht andere „Erfahrungen“ in diesem Zusammenhang „realistischer“?
Die Selbstmordquote unter den Amerikanern mittleren Alters ist im letzten Jahrzehnt stark gestiegen. In den „führenden“ USA sterben nach einem Bericht des Center for Disease Control and Prevention inzwischen mehr Menschen durch Selbstmord als durch Autounfälle. Dabei wird nicht in Betracht gezogen, dass eine beträchtliche Zahl der scheinbaren Auto- und anderer Unfälle tatsächlich auch Selbstmorde sind. Im Jahr 2010 gab es in den USA 33.687 Todesfälle durch Verkehrsunfälle und 38.364 gemeldete Selbstmorde. Selbstmord wird normalerweise als ein Problem pubertierender Teenager und unheilbar kranker Alter gesehen. Dass es Leute in ihren „besten Jahren“ tun, überrascht. Von 1999 bis 2010 ist die gemeldete Selbstmordquote bei Amerikanern im Alter 35-64 um fast 30% gestiegen, auf 17,6 Todesfälle je 100.000 Menschen, von zuvor 13,7 Todesfällen je 100.000. Die Selbstmordquote wächst sowohl bei Männern als auch bei Frauen dieser Altersgruppe, aber erheblich stärker bei Männern. Die Selbstmordrate bei Männern mittleren Alters lag bei 27,3 Todesfällen je 100.000 Einwohnern, während die der Frauen bei 8,1 lag. Die Quote dürfte aber insgesamt viel höher liegen. Behörden vermeiden nach Möglichkeit, Selbstmorde zu vermelden. Auch Verwandte schätzen das nicht. „Selbstmord wird allgemein wenig vermeldet“, sagte Julie Phillips, Professorin für Soziologie an der Rutgers University, welche die Analysen veröffentlicht hat.
Angesichts solcher Zahlen sollten die Amerikaner weniger Zeit und Geld dafür ausgeben, sich vor Terror zu schützen. Das US-Budget für „Sicherheit“ erreicht die phantastische Summe von rund 1 Billion Dollar pro Jahr. Hingegen entspricht der Aufwand für Selbstmord-Prävention im US-Haushalt den sprichwörtlichen Peanuts, er beläuft sich auf kaum 56 Mio. Dollar pro Jahr. Dabei ist das Risiko für einen typischen Amerikaner, an Selbstmord zu sterben, ungefähr 1.000 Mal größer als das Risiko durch „Terroristen“ umzukommen.
Obwohl Medien es anders verkünden, steckt die US-Wirtschaft trotz starker Bezuschussung von außen nach wie vor in der Rezession. Zwar deuten zwei ökonomische Kennziffern eine wirtschaftliche Erholung an: Das offizielle BIP und die U.3-Arbeitslosenquote. Das offizielle BIP wird um eine unrealistisch niedrige Inflationsrate hochgerechnet. Statt der offiziell gemeldeten Inflationsrate von 2 Prozent (CPI-U) sieht Statistiker John Williams von Shadowstats.com die US-Inflationsrate aktuell bei 9,6 Prozent. Er misst die Inflationsrate noch immer nach der Methode, die für die US-Regierung offiziell bis 1990 gegolten hatte, aber dann wegen des unschönen Erscheinungsbildes geändert worden war. Die Höhe des realen BIP wird drastisch überschätzt. Die U.3-Arbeitslosenquote sinkt, weil sie die Arbeitskräfte nicht mehr mitzählt, die ihre Arbeitsplatzsuche entmutigt aufgegeben haben. Die tatsächliche Arbeitslosenquote der USA wird auf das Zwei- bis Dreifache der offiziell gemeldeten geschätzt. Keine andere ökonomische Kennzahl deutet auf eine Erholung der US-Wirtschaft hin: weder die realen Einzelhandelsumsätze noch der Haus- und Wohnungsbau, das Konsumentenvertrauen, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder die durchschnittlichen Löhne und Gehälter. Die realen Einkommen der Konsumenten in den USA fallen weiter. Die Konsumenten sind so hoch verschuldet, dass sie ihre Ausgaben mit höheren Schulden nicht mehr finanzieren können. Die De-Industrialisierung der USA schreitet wie in Europa (nur mit weniger Umweltschutz-Brimborium) voran. Im Zuge der Verlagerung der Warenproduktion für den amerikanischen Markt in Billiglohnländer wurden bereits Millionen Arbeitsplätze der amerikanischen Mittelklasse vernichtet und zwar mehr, als das in Europa wahrgenommen wird: Laut Manufacturing and Technology News vom September 2011 wurden in den USA innerhalb von zehn Jahren knapp 55.000 Fabriken stillgelegt. Die Zahl der Arbeitnehmer in der verarbeitenden Industrie ging um 5 Mio. Menschen zurück.
Der Arbeitsplatzabbau beschränkt sich nicht auf die Güterproduktion. Ihr folgen Forschung und Entwicklung (R&D). Das haben 20 MIT-Professoren in einer neuen „Studie“ bestätigt. Innovation findet dort statt, wo real produziert wird. Nach dem Business in China Survey 2013 der China Europe International Business School (CEIBS) betreiben z.B. 52 % der in China angesiedelten Unternehmen im Besitz von Ausländern ihre R&D-Aktivitäten in China. Knapp zwei Drittel der aus- und inländischen Unternehmen in China planen, ihre Investitionen in R&D in den kommenden drei Jahren aufzustocken. Die „Neue Ökonomie“ Amerikas ist in Wahrheit eine „Offshored Economy“, stellt Nobelpreisträger Michael Spence fest. Die ehemaligen Einkommen von Millionen Amerikanern sind heute die Einkommen von Chinesen und Indern plus die Kapitalgewinne der Aktionäre und die Boni der Vorstände, die die Arbeitsplätze ins Ausland verlagert haben. Mehr und mehr US-Bürger geraten in Not. Städte und Infrastruktur verfallen. Aus Downtowns werden Notowns, „Modern Day“ Geisterstädte wie Gary in Indiana.
Die erwähnte Billion $ für Sicherheit pro Jahr richtet sich nominell gegen Terroristen aus dem Ausland, tatsächlich handelt es sich ebenso wie bei den Waffenlagern, die sich US-Bürger zulegen, um Vorbereitungen auf soziale Unruhen derer, die aus Erfahrung klug werden. Daran ändert das Gesetz (Kongress Bill S. 505) des US-Senators Paul Cruz vom 7. März 2013 nichts. Es will verbieten, dass Drohnen in den USA zum Töten amerikanischer Bürger eingesetzt werden. (vgl. http://antikrieg.com/aktuell/2013_05_09_wirtschaftshype.htm von Paul Craig Roberts)
20 Jahre war Karin Hudes bei der Weltbank tätig, bevor sie über die internen Betrügereien und die Korruption in der Weltbank berichtet hat und deshalb “gegangen” wurde. Die Weltbank ist eine der drei Zentralinstitutionen, mit denen die Hochfinanz versucht, Übertreibungen ihrer eigenen Mitglieder einzudämmen. Eine „Studie“ von drei Schweizer Systemanalysten hatte ergeben, dass 43.000 der größten transnationalen Konzerne der Welt über ihre Geschäftsführungen mit einander so verflochten sind, dass nur 147 Firmen (zumeist aus dem Finanzsektor) über diese Verflechtungen 40% des Reinvermögens dieser 43.000 Konzerne und über 60% ihrer Erträge kontrollieren. Karin Hudes meint erkannt zu haben, dass die Gruppe dieser 147 den Vorsitz der Weltbank als eine Art Marionettenposten für die Beherrschung der Welt nutze. „Ich kämpfe nun schon seit Jahren, den Amerikanern klar zu machen, was abläuft. Ich bin da nicht durchgedrungen, weil diese Finanzgruppe die Presse aufgekauft hat und systematisch Desinformation betreibt.”
Dies mag der Grund sein, weshalb die BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, Iran und Indonesien sind Beitrittskandidaten, weitere Schwellenländer wie Venezuela, Türkei, Ägypten, Pakistan und Malaysia hegen Beitrittsabsicht) bei ihrem Treffen am 26/27. 3. 2013 in Durban beschlossen hat, als Gegenstück zu Weltbank und IWF und zur Befreiung von der Dollarabhängigkeit die Gründung einer eigenen Entwicklungsbank mit einem eigenen Währungsaustauschmechanismus ins Leben zu rufen. Noch behindern von außen geschürte interne Rangeleien um Vorrechte die Durchführung des Projekts. Darauf, dass ihnen das auf Dauer gelingt, können sich bewusste und unbewusste Initiatoren des Streits im Westen sich nicht verlassen. Dagegen stehen die Erfahrungen ihrer eigenen Untertanen, die allmählich klug machen – auch wenn das lange dauert. Bisher waren wir mit unserem Glauben an den Markt eine Last, sehr bald werden wir überflüssig sein – Müll eben, in den wir so verliebt sind.
2 Reaktionen zu “Aus Erfahrung unklug?”
Vielen Dank dem „Spatz“ für die Woche für Woche wiederkehrenden Informationen über die reale Welt da draussen.
Zu der schlichten aber wahren Erkenntnis am Ende dieses gelungenen Beitrags eine Zustandsbeschreibung die ich schon vor Jahren in den unendlichen Weiten des Internets fand:
Die müllsortierende Gesellschaft
Ihre Sprache lassen sie verkommen;
ihre Jugend lassen sie verkommen;
ihre Kultur lassen sie verkommen;
ihre Sitten lassen sie verkommen;
ihr Land lassen sie verkommen;
ihr Volk lassen sie verkommen;
ihre ungeborenen Kinder schmeissen sie in den Abfall.
Es ist höchste Zeit für Empörung
mfg
Arbeit kann schon als tauschbares Gut für den Markt angesehen werden.
Ich arbeite ja nicht für mich, sondern für irgendjemand anderen. Ich brauche für meine Arbeit einen Widerpart, der sie empfangen will, der durch meine Arbeit einen Gewinn haben will. Die Bestimmung dieses Wertes meiner Arbeit – den dieser mir überläßt, kann ich nur ihm überlassen und niemand anderen. Ihm könnte mein verlangter Wert zu hoch sein – dann „macht er es lieber selbst“.
Anders ist es, wenn jemand drittes bestimmt, ob und was der Widerpart mir geben soll. Man wendet dieses an bei GEZ-Gebühren und Wagnerinszenierungen in Düsseldorf (Tannhäuser in Auschwitz statt im Venusberg) – die Anbieter müssen sich nicht die Spur eines Gedanken machen, ob das „Produkt“ gewollt ist.