Kunst oder Klamauk
31. August 2018 von admin
Gibt es da keinen Unterschied mehr? Kaum, könnte man angesichts so mancher „Kunst“-Aktion denken. Eine solche war nach Aussagen des Wiesbadener Theater-Intendanten auch die 4 m hohe vergoldete, erkennbar dargestellte Erdogan-Statue auf dem „Platz der Deutschen Einheit“ in Wiesbaden. Sie löste bis in die USA (Washington Post und New York Times) heftige Diskussionen aus, die sich wesentlich um das Pro und Contra gegenüber dem dargestellten türkischen Spitzenpolitiker drehten. Die Diskussion führten meistens Leute, die selbst nichts außer dem, was ihnen die Medien eintrichtern, über den Mann wissen. Der Mann hat Kurden angegriffen, Ja, aber aus welchem Grund, er hat Deutsche inhaftiert, ja, aber was haben die denn getan, was wirft man ihnen eigentlich vor, er hat den IS unterstützt und damit Syrien angegriffen, genauso wie der Westen mit Waffenlieferungen und strategischer Leitung z.B. vom NATO-Stützpunkt Incirlik in der Türkei aus (während man offiziell vorgibt ihn zu bekämpfen) usw. Andere sehen im Dargestellten den Repräsentanten ihres Staates, mit dem sie sich mehr identifizieren, als mit dem Land, in das sie ungenötigt eingewandert sind.
„Hunderte türkische Staatsbürger zogen spontan mit Autokorsos und Türkeifahnen durch Wiesbaden und machten bis spät in die Nacht klar, wer ihrer Meinung nach das Sagen in der Stadt hat. Doch es gibt auch Gegenstimmen. Unbekannte haben die Statue bereits mit „Fuck You“ beschmiert und ihre Ablehnung gegen Erdogan zum Ausdruck gebracht. Auch in sozialen Netzwerken wird heftig über die Statue diskutiert.“ „Ein voller Erfolg“ also, meint der Intendant genüsslich, denn damit käme zum Vorschein, was unterschwellig in den Köpfen der Leute schmort, und „Kunst muss provozieren!“. Weil die Statue das getan hat, war sie Kunst, sagte unter anderen sinngemäß der Intendant und ein Wiesbadener „Künstler“.
War die Aktion der jungen Männer, die sich angeblich (möglicherweise) an eine Frau heranmachen wollten und, als sie von drei Männern daran gehindert wurden, zugestochen haben, woran der eine starb, die anderen schwer verletzt im Krankenhaus überlebten – war dies auch Kunst? Die Messerhelden haben sicherlich mehr „provoziert“ als der Beton-Klotz in Wiesbaden. Offensichtlich aber nicht genug. Denn der Antifa-Journalist Johannes Grunert musste dem noch eins draufsetzen, in dem er ohne Beweise verbreitete: „Rechte jagen Menschen in Chemnitz“. Das kam bei den medialen und politischen Claqueuren in Deutschland gut an. Sie und die von ihnen umerzogenen Gutmenschen fielen erregt/begeistert darauf herein, weil sie genau dergleichen hören wollten. Nun musste der Chefredakteur der ausgesprochen „linken“ Freien Presse, Torsten Kleditztsch, im Deutschlandfunk zugeben, dass die Journalisten vor Ort keine Hetzjagden beobachten hätten. Die Demonstration war friedlich verlaufen von wenigen „Agent Provocateurs“ am Rande abgesehen (über deren Herkunft und eigentliche Absicht gerätselt wird, weil sie für die dringend nötigen Bilder in den Medien (wenn diese nicht aus dem Archiv stammten) gesorgt haben) Vgl. https://spoekenkiekerei.wordpress.com/2018/08/30/zeitonline-die-bundesregierung-und-die-fakenews-des-jahres/). War das nun auch Kunst? Provoziert hatte man allerlei, trotzdem wird wohl niemand die Frage (außer der Antifa vielleicht) mit „Ja“ beantworten wollen. Offensichtlich gibt es Grenzen der Provokation und damit der „Kunst“.
Ich halte nichts von Grenzen der Provokation, die die Kunst nicht überschreiten sollte. Der eigentliche Unterschied liegt bei dem, was Kunst oder der Klamauk bei Menschen provozieren (zu Deutsch „hervor-rufen“ also so etwas wie „auslösen“) will. Ja, Kunst soll Menschen provozieren, „herausfordern“. Aber wozu, was soll sie hervorrufen? In der abendländischen Gesellschaft sollte die Kunst den Menschen zum Gebrauch seiner Vernunft (nicht zu verwechseln mit dem Verstand) herausfordern. Sie sollte in ihm Resonanz für das Schöne, Gute und Wahre hervorrufen. Damit meinte man nicht etwa schöne, gute und wahre Gegenstände, Klänge oder Texte, sondern Affekte, die den einzelnen Menschen aus den Problemen seines engen Eigenbedarfs auf das für alle Menschen insgesamt not-wendende Allgemeingültige verweist, was die Menschheit schließlich befähigt, kreativ die sich jeweils wieder abzeichnenden Grenzen des Wachstums produktiv zu überwinden also wie der Schöpfer „schöpft“.
In der Marktgesellschaft gilt etwas anderes als Kunst. Das liegt daran, dass in ihr Geldverdienen das einzig relevante Motivation des Handelns ist. Alles andere ist so etwas wie Hobby und rangiert zwischen Spinnerei und abgehobenen Idealismus. Auch Kunst ist in diesem Rahmen ein Geschäft, ein Milliarden-Geschäft. Was soll sie schaffen, womit verdient sie ihr Geld? Sie will in den vom Geldverdienen „verbiesterten“ Menschen in der Freizeit ihre versandeten Emotionen etwas wachrütteln, damit dieser wieder etwas Erregung zu spüren bekommt und dabei „ganz andere“ Erfahrungen machen. Dabei ist es unerheblich, was an Inhalten „erfahren“ werden soll, es kommt in erster Linie auf die Intensität der Erfahrung an, sie sollen den Vereinzelten aus sich herauslocken, am besten „berauschend“ sein. Das reflektiert z.B. das Konzept der sogenannten „Abstrakten Kunst“.
Doch was heißt/sind „verbiesterte“ Menschen? Einer der erste Schriftsteller, der nach dem modernen, postbürgerlichen „Mann ohne Eigenschaften“ den postmodernen Zeitgenossen am radikalsten beschrieben hatte, dürfte – soweit ich sehe – der amerikanische Schriftsteller Joseph Heller gewesen sein. Sein Roman „Was geschah mit Slocum“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.1975 ursprünglich Something Happened 1974) spielt am Arbeitsplatz von Bob Slocum, besagt aber an keiner Stelle, was er dort tut oder was die Firma, für die er arbeitet, herstellt. Das ist konsequent, denn Bob ist das, wie eigentlich alles, was seine Lebensumstände betrifft, „sowas von egal“, genauso wie sein Chef, seine Frau, seine drei Kinder, seine zwei Autos, sein teures Eigenheim im Grünen und eine Unmenge von „Weibern“, mit denen er sich abgibt. Das alles lässt ihn völlig kalt. Er ist wohlhabend, er hat alles, was er braucht. Was ihm fehlt sind Ziele, Wünsche, Herausforderungen. Das – vor allem – weiß und empfindet er. Er ist deshalb gereizt, steckt voller Ressentiments gegen alles und jeden, gegen Frauen, Juden, Ausländer, Arme, Verbrecher, behinderte Menschen und verachtet und hasst doch nur das einzige, was ihm geblieben ist, sein Selbst. Er ahnt, dass er etwas sollen sollte, etwas, das anzustreben sich lohnen könnte, weil es Sinn machte, aber er kann sich nicht aufraffen, sich nicht „zusammenzunehmen“, kann keinen „Sinn“ erkennen, weil er letztlich keinen Nutzen darin sieht.
Der Roman ist ein einziger langer Monolog über dieses enge Selbst. Slocum kennt es genau, er kritisiert es schonungslos und verteidigt es ebenso grundlos. An Verstand fehlt es ihm nicht, wohl aber an Vernunft. Er vernimmt nichts mehr, ihn geht nichts mehr an. Hier könnte Kunst provozieren. Aber was? Auf nahezu 500 Seiten teilt Slocum sich und dem Leser mit, dass er langweilig, schlau, gemein, infantil, kaputt, vernünftig, eitel, kriecherisch, witzig, rachsüchtig, feige, scharfsinnig, rücksichtslos, schäbig, verlogen, geil, wehleidig, wendig und mehr ist. Doch vor allem ist er unveränderlich, weil er keinen zwingenden Grund, keinen Sinn und Nutzen erkennt, sich zu ändern. Eigentlich findet er auch keinen, um irgendetwas zu ändern. In dem, was ihm durch den Kopf geht, wiederholt und widerspricht er sich. Er tut das systematisch und in vollem Bewusstsein und in einem fort.
Der ursprünglicher englische Titel des Romans „Something happened“ bedeutet im Grunde, dass Nichts geschieht, obwohl der Romanheld eigentlich aufregende Dinge in ständiger Reflexion im Kopf wälzt: Familienkrachs, Bürointrigen, Hurereien. Doch das ist alles Nichts. Josef Heller beschreibt, -übertrieben vielleicht – worauf das Leben einer typischen Figur der modernen, gehobenen, systemtragenden Mittelschicht mit ihrer rationalen Willkür, Aussichtslosigkeit und Hoffnungslosigkeit letzten Endes hinausläuft. Kunst sollte, wenn sie denn Kunst wäre, einen solchen Menschen aus diesem circulus viciosus herausrufen, ihn aus dem Strudel des gängigen Narzissmus herausprovozieren. Das versucht der Verfasser, indem er dem Typen möglichst überzeugend den Spiegel vorhält und fragt: Willst Du nicht doch etwas anderes als ein solch langweiliges Ich, wie Slocum. Klamauk würde versuchen, den normalen Narzissten vom masochistischen Genuss seiner Selbst zeitweise abzulenken, indem er ihm etwas bietet, etwas, was er noch nicht erlebt hat, etwas „Unerhörtes“, etwas, was ihn vielleicht noch „aufzuregen“ vermag.
Die von Heller beschriebenen Narzissmus-Symptome scheinen in Gesellschaften umso ausgeprägter aufzutreten, je individualistischer und Allgemeinheit-vergessener das Selbstverständnis ihrer Mitglieder ist (wobei „allgemein“ das wäre, was die Gesamtheit und Gemeinsamkeit der Bürger betrifft und in einer „Demokratie“ angehen sollte). Dass es sich beim alltäglichen Narzissmus um eine Krankheit handelt, fällt dem einzelnen Betroffenen in einer narzisstischen Gesellschaftsformation wie der Marktgesellschaft kaum auf. Der Betroffene giert danach, aus dem narzisstischen Strudel der hoffnungslosen Selbstreflexion von jemandem herausgeholt zu werden und ist bereit dafür, für den Klamauk, auch zu bezahlen, weil und wenn dieser ihn wenigstens vorübergehend von den schmerzhaften Leidensmomenten der Krankheit ablenkt. Deshalb sind auch „Comedians“ so gefragt, oder auch kritische „actions“ bis hin zum bloßen “Krimi“. Da lässt man sich, wenn sie „gut“ sind, vorübergehend und möglichst „voll engagiert“ in das Für und Wider von Dingen einvernehmen, mit denen man sich ernsthaft nicht auseinandergesetzt hat, weil das keinen Spaß machen würde, anstrengend wäre und – vor allem – sich nicht auszahlt. Dafür bezahlt man schließlich jemanden (Medien, Experten, Künstler, Gurus, superkritische Komiker, – je nach dem) für die Mühe, die sich der/die Betreffende(n) mach(t)en, einen aus sich herauszulocken, engagieren, kurz: zu erregen.
Wer von den Kernkraft-Gegnern, Klima-Besorgten, Erdogan-Kritikern etc., weiß ernsthaft, wofür oder wogegen er sich engagiert. Dazu wäre eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand nötig. Die macht Arbeit, und Arbeit muss sich in der Marktgesellschaft auszahlen. Dabei wäre die Intensität der Auseinandersetzung das Maß für die Ehrlichkeit des Engagements. Genau darauf kommt es beim Klamauk nicht an, sondern auf den möglichst rauschhaften Genuss der Erfahrung des sich gelegentlich für oder gegen etwas möglichst affektiv zu Positionierens. Das eigentliche Problem ist die „Ernsthaftigkeit“, die Slocum wie den meisten Zeitgenossen fehlt, weil die Stelle in der Marktgesellschaft vom Geldgewinn besetzt ist.
Kunst hätte die Zeitgenossen dazu zu provozieren, sich aufzuraffen, sich „zusammenzunehmen“ für ein ernsthaftes (nicht leichtfertig von außen induziertes) Engagement des eigenen Lebens für etwas, was für die Allgemeinheit und nicht nur für das enge bloße Selbst Sinn machen würde. „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein“, dichtete einer der Dichter der Vor-Marktgesellschaft. Um das Leben einzusetzen muss die eigene, von Heller am Beispiel Slocum demonstrierte Leblosigkeit nicht zynisch als Überheblichkeit genossen, sondern als Krankheit ernstgenommen werden, die, um zu leben, überwunden werden muss. Dazu zu provozieren, hat Heller mit seinem Kunstwerk versucht.
Konnte die Erdogan-Skulptur auf dem Wiesbadner Platz der deutschen Einheit etwas in diese Richtung bewegen, wollte sie es überhaupt? Sie provozierte ein lautes sich mehr oder weniger un-ernsthaftes Engagement in einer Sache, die man im Grund nicht näher kennt, an der man sich aber mit gutem (medial vermitteltem) Gewissen aufregen lassen kann. Das dabei gezeigt Engagement bleibt folgenlos aber für den Genuss der kurzfristigen Erregung hat es – wie beim Klamauk üblich – gesorgt. Am Rande des Geschehens stehen die Verursacher der vorhergesehenen und geplanten Erregung der Viel-zu-Vielen und genießen den Erfolg: Wieder ist es ihnen gelungen, die verbiesterten kleinen Leute für Nichts und folgenlos aus der Reserve zu locken. What next?
Christopher Laschs recht überzeugende Beschreibung des Narzissmus als Struktur der westlichen Lebensweise (Das Zeitalter des Narzissmus. Hoffmann & Campe Hamburg 1995, ursprünglich The culture of narcissism: American life in an age of diminishing expectations 1979) konnte wegen angeblich methodischer Schwächen zurückgewiesen und die Betroffenen so vor der Wahrnehmung geschützt werden. Der Psychiater Stefan Röpke und die Psychologin Aline Vater am Campus Benjamin Franklin der Charité Universitätsmedizin Berlin (CBF) haben mit der Untersuchung der narzisstischen Tendenzen in Ost und Westdeutschland wieder einmal die Finger in die dick verbundene Wunde legen wollen. (Pathologischer Narzissmus als Gesellschaftsphänomen. Vortrag auf dem Kongress der (DGPPN) vom 23.-25.11.2016). Sie konnten an Hand der Eingliederung der ostdeutschen, eher kollektivistischen Gesellschaft in die individualistische des Westens zeigen, dass die Menschen, die in Westdeutschland aufgewachsen sind, im Allgemeinen narzisstischer als die Ostdeutschen sind und zugleich „ein niedrigeres Selbstwertgefühl als die ostdeutsche Vergleichsgruppe aufgewiesen haben.“ Doch nach der Wende schienen sich die jüngeren Menschen im Osten rasch denjenigen im Westens anzugleichen.
Mehr dazu und zur Entstehung des Problems in meinem Text: Der Westen, ein Abgesang, Entstehung und Zukunft der westlichen Marktgesellschaft. Der Text: 204 engbeschriebene DIN A 4 Seiten mit 875 Anmerkungen gut belegt. Er kann als PDF-Datei für € 15 per e-mail über boettigerdrh@web.de erworben werden. (Eine Veröffentlichung im Imhof Verlag Petersberg ist in Vorbereitung).